Friedrich Nietzsche. Lebensstationen in Mitteldeutschland (2)

1849-1864: Schulzeit - Naumburg, Schulpforta und Umgebung

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Friedrich Nietzsche: Lebensstationen
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Der Tod des Vaters im Juli 1849 war ein gravierender Einschnitt im Leben Nietzsches und seiner Familie: Über den menschlichen Verlust hinaus bewirkte dessen Stellung als Pfarrer zugleich, daß die Familie nach seinem Tod das Wohnrecht im Röckener Pfarrhaus verlor und sich nach einer neuen Wohnung umsehen mußte. Fündig wurde Nietzsches Mutter Franziska schließlich in der Naumburger Neugasse 11 (heute Neustraße), wo die Mutter mit den Kindern Friedrich und Elisabeth im Frühjahr 1850 einige hofseitige Zimmer bezog. Die beengte Lage nahe der südlichen Stadtmauer (der Wenzelsmauer) machte es Nietzsche nicht leicht, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Das ländliche Leben, wie er es aus Röcken kannte, hat er in der damaligen Beamten- und Soldatenstadt Naumburg schmerzlich vermißt.

In Naumburg besuchte Nietzsche ab 1850 zunächst die Bürgerschule am Topfmarkt hinter der Wenzelskirche, 1854/55 dann das von Karl Moritz Weber geleitete Propädeutikum am Kramerplatz und anschließend das Domgymnasium.

1856 starb Nietzsches Großmutter väterlicherseits, Erdmuthe, im Alter von 78 Jahren. Für die Familie war dies mit einer Verbesserung der materiellen Lage verbunden: Das Erbteil, das Franziska Nietzsche zufloß, ermöglichte es der Mutter, einen vollwertigen Hausstand zu begründen: Nach einer Zwischenstation in der Nähe des Naumburger Marientor am nordöstlichen Rand des Stadtkerns konnte sie schließlich, im Jahre 1858, das hier abgebildete Haus Weingarten 18 (nach damaliger Zählung Hausnummer 355; vgl. KSB V, Brief Nr. 533) im Südosten erwerben, in dem die Mutter bis zu ihrem Tode 1897 wohnte. Seit 1994 befindet sich hier übrigens das Naumburger Nietzsche-Museum.

Nietzsche selbst hat von dem neuen Domizil zunächst kaum profitieren können: Bereits am 5. Oktober 1858 wechselte er an das Gymnasium in den Mauern des ehemaligen Zisterzienserkloster Schulpforta, im Saaletal zwischen Naumburg und Bad Kösen gelegen:

Schulpforta war (und ist es heute wieder – Auskunft hierüber gibt die Website der Landesschule Pforta) eine öffentliche Eliteschule mit Internatsbetrieb, die angesichts der nach wie vor bescheidenen Verhältnisse der Nietzsches normalerweise unerschwinglich gewesen wäre. Nietzsche hatte jedoch am Domgymnasium durch außergewöhnliche Sprachbegabung und seine dem Elternhaus geschuldeten theologischen Kenntnisse auf sich aufmerksam gemacht, so daß er nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung nicht nur die Zulassung zur Pforte erhielt, sondern durch ein Begabtenstipendium der Stadt Naumburg (sog. Alumnat) auch die materiellen Voraussetzungen, um dieses Angebot nutzen zu können. Auf welchem Niveau sich die Ausbildung in Schulpforta abspielte, wird an dem Umstand deutlich, daß selbst ein hochtalentierter Gymnasiast wie Nietzsche die Aufnahmeprüfung nur knapp bestand und unversehens um ein Jahr in die Untertertia zurückgestuft wurde. Auch andere illustre Köpfe, die in Schulpforta herangezogen wurden, zeugen davon: Klopstock, Fichte, Ranke – um nur einige zu nennen.

Auch wenn das 1137 gegründete Zisterzienser-Kloster gleich nach der Reformation säkularisiert und 1543 durch Moritz von Sachsen in eine Fürstenschule umgewandelt worden war, erinnerte der Schulalltag zu Nietzsches Zeiten noch stark an klösterliche Isolation: Von Montag bis Samstag war das Verlassen des Geländes komplett verboten, und man mag es kaum glauben, wenn man den 16jährigen Nietzsche in einem Brief an seine Tante Rosalie mit unverhohlener Begeisterung von vorteilhaften Neuerungen im Schulalltag schwärmen hört (KSB, Nr. 164):

"Wir stehen [...] 5 Minuten vor 5 Uhr auf, waschen und ziehen uns bis 1/4 6 an, haben dann noch Arbeitsstunde bis 3/4 6 und essen dann Frühstück. Um 6 ist Gebet und gleich darauf fangen die Lektionen an. Nachmittags haben wir noch von 4-1/2 5 eine freie halbe Stunde bekommen. Sodann dürfen wir Sonnabend, Mittwoch und Studientag von nach Tische bis 1/2 2 Uhr ins Freie spazieren gehn außer dem gewöhnlichen Sonntagsspaziergang. [...] Das ist doch eine ganz prächtige Neuerung."

Auch der Sonntag war nahezu vollständig durchgeplant: Vom Wecken um 6 Uhr früh über diverse gemeinsame Gebete und kurze Ausflüge in den Schulgarten bis in den Nachmittag um 16 Uhr: Erst dann durften die Schüler tun, wonach ihnen der Sinn stand – für zwei Stunden; danach hatten sie sich wieder auf dem Gelände einzufinden und kamen unter "Verschluß".

Als Folge dieses Zwangs fanden selbst die häufigen sonntäglichen Treffen mit Mutter und Schwester in aller Regel nicht etwa im Haus der Mutter im Weingarten statt, sondern bei Verwandten im Vorort Almrich, dem westlichsten (und damit Schulpforta nächstgelegenen) Zipfel Naumburgs. Das strenge Reglement erklärt zudem, warum aus Nietzsches Zeit in der Pforte so zahlreiche Briefe in das nur 5 km entfernte Naumburg erhalten sind – es war für ihn die einzige Möglichkeit überhaupt, um mit der Außenwelt in Kontakt zu bleiben. Nietzsches Biograph Werner Ross spricht in diesem Zusammenhang von der "Schulpfortaer Verbannung und Einsamkeit". Und in der Tat stellt sich der Eindruck ein, als ob zwischen den furchterregenden Verhältnissen, wie sie fast 100 Jahre zuvor der junge Schiller an der Stuttgarter Hohen Karlsschule angetroffen und erlitten hatte, und dem Reglement von Schulpforta zu Nietzsches Zeit sich nur wenig verändert hätte.

Nietzsche rückte rasch zum Musterschüler auf und fügte sich recht reibungslos in den Schulalltag ein. Ganze zwei Fälle sind bekannt, in denen er sich den Tadel seiner überstrengen Lehrer zuzog: Zum einen hatte er bei der Stubeninspektion gewagt, vorgefundene Mängel mit Humor zu Protokoll zu geben; zum anderen wurde er am 12. 4. 1863 im hier abgebildeten Bahnhof des nahegelegenen Bad Kösen von einem Lehrer dabei ertappt, sich zu betrinken. Eine Rückstufung in der Schülerrangordnung und einmaliger Entzug des sonntäglichen Spaziergangs waren die Strafe.

Seiner Mutter beichtet er diesen Vorfall mit allen Anzeichen protestantischer Zerknirschung am 16. 4. 1863 (KSB, Nr. 350):

"Wenn ich dir heute schreibe, so ist es mir eins der unangenehmsten und traurigsten Geschäfte, die ich überhaupt gethan habe. Ich habe mich nämlich sehr vergangen und weiß nicht ob du mir das verzeihen wirst. Mit schwerem Herzen und höchst unwillig über mich ergreife ich die Feder [...] Ich bin also vorigen Sonntag betrunken gewesen und habe auch keine Entschuldigung weiter, als daß ich nicht weiß, was ich vertragen kann. [...] Daß ich sehr niedergeschlagen und verstimmt bin, kannst du dir denken, und zwar mit am meisten, daß ich dir solchen Kummer bereite durch eine so unwürdige Geschichte, wie sie mir noch nie in meinem Leben vorgekommen ist."

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