Friedrich Nietzsche: Lebensstationen |
Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) hat seine Jugend und sein von geistiger Umnachtung gekennzeichnetes letztes Lebensjahrzehnt in einer Gegend verlebt, die im heutigen südlichen Sachsen-Anhalt bzw. dem nördlichen Thüringen gelegen ist. Zwischen diesen beiden Endpunkten in Nietzsches Leben liegt eine langjährige Phase geistiger Produktivität, aber auch körperlicher Pein, die ihn zu zwanghaft wechselnden Aufenthaltsorten vor allem in der Schweiz und in Norditalien führten. Auf dieser und den folgenden Seiten stelle ich die in Mitteldeutschland gelegenen Lebensstationen Nietzsches vor ("Mitte" notabene verstanden in Nord-Süd-Richtung — um Mißverständnissen vorzubeugen). Der Weg führt dabei von Nietzsches Geburtsort Röcken über Naumburg, das Kloster Schulpforta und Bad Kösen und schließlich – nach einem Intermezzo in Tautenburg und unter Aussparung der südeuropäischen Stationen – zurück nach Jena und Weimar. Friedrich Wilhelm Nietzsche wurde am 18. Oktober 1844 geboren in dem kleinen Dorf Röcken, zwischen Weißenfels und Leipzig unweit Lützen gelegen, wo 1632 in einer wichtigen Schlacht des 30jährigen Kriegs die kaiserlichen Truppen unter Wallenstein geschlagen wurden und heute eine Gedenkstätte an den Schwedenkönig Gustav II. Adolf erinnert, der zwar den Sieg errang, aber selbst in jener Schlacht das Leben ließ.
Als Sohn des Röckener Dorfpfarrers Carl Ludwig Nietzsche und
dessen Frau Franziska reiht Nietzsche sich ein in die lange Reihe
prägender Gestalten der deutschen Geistesgeschichte, deren
Wurzeln in einem protestantischen Pfarrhaus liegen. Auch der
Großvater mütterlicherseits, David Ernst Oehler, war
bereits Pfarrer. Nietzsche war das älteste von drei
Geschwistern: Im Abstand von je zwei Jahren folgten seine Schwester
Elisabeth und der Bruder Ludwig Joseph, der mit nicht ganz zwei
Jahren bereits einem schweren Fieber erlag.
Die Röckener Pfarrkirche ist eine
kleine, einfache Dorfkirche, ungeachtet dessen freilich uralt
– sie ist romanischen Ursprungs und nahezu 900 Jahre alt. Der
Bau ist gedrungen und wirkt wie hingeduckt, was noch durch den
breiten, schwerfälligen Turm unterstrichen wird, der das steil
aufragende Satteldach des Kirchenschiffs nur mit Mühe
überragt. Nietzsche hat die ersten fünfeinhalb Jahre seines Lebens an diesem Platz zugebracht und die landschaftlichen Eigenheiten der Gegend sehr genossen – eine große, dem Kind sich endlos darstellende Ebene, die dem schweifenden Blick keine nennenswerten Anhöhen in den Weg stellt. In seiner bereits 1858 als Jugendlicher verfaßten Autobiographie findet Nietzsche Worte starker Verbundenheit mit der Landschaft seiner frühen Kindheit.
Beendet wurde dieser erste Lebensabschnitt durch den frühen
Tod von Nietzsches Vater am 30. Juli 1849, dem eine etwa
einjährige Phase mit Lähmungserscheinungen,
plötzlicher Erblindung und schweren Kopfschmerzen
vorausgegangen war. Der behandelnde Leipziger Arzt Oppolzer
diagnostizierte als Todesursache "Gehirnerweichung", was angesichts
von Nietzsches eigener späteren geistigen Umnachtung zu
Spekulationen über einen mutmaßlichen "ererbten
Schwachsinn" führte. Aus heutiger Sicht erscheint es jedoch
als wahrscheinlicher, daß der Vater einem akuten
intrakraniellen Leiden erlegen ist, vermutlich einem
Gehirntumor. "Sie sehen: nach Muthlosigkeit sieht meine Stimmung am wenigsten aus! Eher nach Übermuth; denn ich rechne auf lange Lebensstrecken hin, und da hat sich zB. mein Vater verrechnet, der mit 36 [sic!] Jahren starb." Diese Ängste lösten sich erst in der Zeit nach 1879, nachdem Nietzsche seinen mit 35 (nicht 36) Jahren verstorbenen Vater überlebt hatte und die Vorstellung, im gleichen Alter von der Krankheit ergriffen zu werden, vor der Realität keinen Bestand mehr haben konnte. Wie man sieht, ist das Innere der Kirche nicht ohne Reiz: Geboten wird eine recht wilde und jeder Symmetrie hohnsprechende Mischung aus romanischer Wuchtigkeit, von der der aus verputzten Natursteinblöcken gemauerte Stützpfeiler der linken Empore zeugt – dem aber zugleich auf der gegenüberliegenden Seite eine dorisch anmutende kannellierte Säule für denselben Zweck gegenübersteht. Das Chorgestühl zur Rechten hat auf der anderen Seite keinen Widerpart. Dort hängen dafür Steinreliefs mit den Bildnissen verblichener Potentaten an der Wand. Die Predigerkanzel schließlich ist umrahmt von kapitellgekrönten Marmorsäulen und einem Dreiecksgiebel, die geradewegs aus der klassischen Antike den Weg nach Röcken gefunden zu haben scheinen. Verführerisch erscheint es übrigens, Verbindungen zu suchen zwischen dem Kircheninventar und dem, was es in den Gedanken des kleinen Nietzsche ausgelöst haben mag: Natürlich wird auch eine so bescheidene Kirche im bäuerlichen Umfeld Röckens ihre erhabene Wirkung nicht verfehlt haben. Doch gibt sie sich auch Blößen: Das Rauhe, Asymmetrische an ihr könnte sehr wohl Zweifel nähren, die Kirche und den Glauben selbst als Werk des Menschen sichtbar machen, der sich das göttliche Prinzip nur ausgedacht hat und es ebensogut auch hätte bleiben lassen können. Das Hohle, Fassadenhafte auch an einem Glauben, der als unerbittliche Forderung im Rahmen gesellschaftlicher Konvention dem Einzelnen auferlegt ist – sie findet ihre bauliche Entsprechung ausgerechnet in der Kanzel, die nur zu erklimmen ist, wenn man zuvor durch die rechte der zu ihren Füßen liegenden Türen einen sich als Wand gebärdenden einfachen Bretterverschlag durchschritten hat. Und nicht zuletzt die antikisierende Kanzeleinfassung – hat da der junge Nietzsche einen ersten Hinweis auf eine Epoche jenseits des Christentums erhalten? Doch ist das alles selbstverständlich reine Spekulation... |