Berlin: Wedding |
Der Wedding hat seinen Ursprung in einem Gutshof des Adligen Rudolf de Weddinge, den dieser um 1200 am Flüßchen Panke errichtete, um damit einem kaiserlichen Geheiß zur Sicherung der Provinzen zu entsprechen. Dieser Hof hatte bis ins 19. Jahrhundert hinein Bestand und bildet gemeinsam mit dem Gesundbrunnen die Keimzelle des Wedding. Der Gesundbrunnen wiederum, der seinen Namen einer dort entdeckten mineralischen Quelle verdankt, wurde ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zum Kur- und Badeort Luisenbad ausgebaut, wovon auch heute noch Straßennamen wie Badstraße oder Brunnenstraße zeugen. Beide Ansiedlungen verschmolzen im 19. Jahrhundert zu der ländlichen Vorstadt Wedding, die 1861 im Rahmen einer massiven Erweiterung des Stadtgebiets zusammen mit Moabit sowie Teilen Schönebergs und Tempelhofs nach Berlin eingemeindet wurde. Der Bezirk gilt im allgemeinen Bewußtsein nach wie vor als Teil des Berliner Nordens, obwohl ein Blick auf die Karte des wiedervereinigten Berlins zeigt, daß man ebensogut von einer nördlichen Umrahmung des Stadtzentrums sprechen könnte. Jeweils 10 Minuten U-Bahn-Fahrt zum Zoo wie zur Friedrichstraße zeigen, daß der Wedding alles andere als hinterm Mond liegt. Der "rote Wedding": Einst...Scheinbar unvermeidlich paart sich mit dem Namen Wedding das Attribut "rot": Der sogenannte "rote Wedding" verweist auf den im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert stark industriell bestimmten Charakter des Bezirks und insbesondere auf die politische Ausrichtung seiner arbeitenden Bevölkerung. Vom heutigen Bezirk Mitte ausgehend entwickelte sich ab etwa 1850 entlang der Chausseestraße nach Norden zu (und damit in den Wedding hinein) eine umfangreiche Ansiedlung von Betrieben der Schwerindustrie, insbesondere der aufkommenden Eisenbahnindustrie. Der in dieser Zeit noch herrschende Mangel an innerstädtischen Verkehrsmitteln bei gleichzeitig hohem Personalbedarf der Unternehmen führte zu der für Berlin typischen Entwicklung der Mietskasernen: Hochverdichtete Wohnkomplexe mit katastrophalem Wohnstandard in unmittelbarer (und damit gesundheitsschädlicher) Nähe der Fabriken. Die miserablen Wohnbedingungen seien hier nur an einem Beispiel illustriert: Um 1905 lag die Kindersterblichkeit für Berlin insgesamt mit 19,5% bereits weit über dem Landesdurchschnitt. Im Wedding allerdings lag dieser Wert bei unglaublichen 42%, bedingt durch industrielle Emissionen (auch die heute idyllisch plätschernde Panke war seinerzeit eine Gefahr für Leib und Leben), kalte, feuchte und lichtlose Wohnungen, Hygienedefizite und anderes mehr. Die extrem belastete Wohnsituation gerade des Weddings wird auch an folgenden Zahlen deutlich: In den 15 Jahren von 1861 bis 1875 stieg die Einwohnerzahl des alten Berliner Zentrums um 65% - diejenige des Weddings (und die Moabits) dagegen um 330%! Und die Mittellosigkeit der arbeitenden bzw. arbeitsuchenden Bevölkerung hatte zur Folge, daß der zunehmenden Wohnungsnachfrage zwar durch den Bau neuer Wohnungen entsprochen wurde, wobei jedoch bis in das 20. Jahrhundert hinein der Anteil der gesundheitsschädlichen Kleinstwohnungen beständig zunahm. Lange Zeit unbeachtet blieb die Tatsache, daß der Wedding zugleich auch einen städtebaulichen Gegenentwurf zu seiner finsteren Vergangenheit besitzt: Im Englischen Viertel nordöstlich des Schillerparks errichtete in den 1920er Jahren der Architekt und Stadtplaner Bruno Taut (von dem auch die weit bekanntere Hufeisensiedlung in Britz stammt) die auf erholsames und entspanntes Wohnen zielende Schillerparksiedlung, die – es klingt fast wie Ironie – im Juni 2009 in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen wurde. Die durch Arbeiter und Arbeitslose geprägte Bevölkerungsstruktur des Wedding hatte eine klare politische Präferenz der linksgerichteten Parteien zur Folge. Hierbei spielte der Wedding allerdings nur eine herausgehobene Rolle für eine ganz Berlin kennzeichnende politische Tendenz: Noch bei den Reichstagswahlen von 1930 und 1932 wählten über die Hälfte der Berliner SPD oder KPD. ... und jetztHeute handelt die Rede vom "roten Wedding" nurmehr vom Mythos einer versunkenen Ära: Zwar konnte sich hier auch im Nachkriegsberlin für lange Zeit eine sozialdemokratisch geführte Bezirksverwaltung halten. Doch von der revolutionär angehauchten Aufmüpfigkeit einer immer selbstbewußter werdenden Arbeiterschaft ist nicht mehr geblieben als die sattsam bekannte "Berliner Schnauze", die für den Wedding nicht typischer ist als für irgendeinen anderen Bezirk. Betrachtet man den Wedding heute (und zwar ganz wörtlich, indem man durch seine Straßen geht und die Augen offenhält), dann stellt sich schnell der Eindruck einer von allen guten Geistern verlassenen Banlieue ein - trotz allen Charmes der vorhandenen alten Bausubstanz. In atemberaubendem Tempo, innerhalb eines einzigen Jahrzehnts - nämlich dem letzten des 20. Jahrhunderts - ist der Wedding von einer Stadtlandschaft, die gerade aus ihren inneren Gegensätzen ihren Reiz bezog, zu einer Stadtwüste verkommen - auch wenn man (noch) genau hinsehen muß, um die Zeichen des Verfalls zu erkennen. Gab es in den 1980er Jahren noch verschiedene imaginäre Grenzlinien innerhalb des Bezirks, die für Eingeweihte die Bereiche voneinander abgrenzten, in denen es sich leben ließ und solchen, die man nach Einbruch der Dunkelheit lieber mied, drängt sich inzwischen der Eindruck allgemeiner Verwahrlosung auf. Aus eigenem Erleben kann ich von Straßen berichten, in denen die Polizei routinemäßig ihre Wannen gleich im Dutzend abzustellen pflegt, von Passanten, die mit größter Selbstverständlichkeit eine Pistole in der Hand halten, während sie über den Zeppelinplatz gehen, vor allem aber von dem aus allen Ritzen quellenden Unrat und Gestank: Der Wedding ist auf dem Weg zur städtischen Müllhalde, und seine heutige Bewohnerschaft, die nach dem angewiderten Rückzug der Lucky Few mehrheitlich in die Kategorie der Modernisierungsverlierer zu fallen scheint, gibt das traurige Personal dazu. Das Streben nach sozialer Durchmischung, das in Ansätzen schon einige Erfolge erzielt hatte und das stets ein Kernanliegen der "behutsamen Stadterneuerung" war (jenem Konzept des Stadtplaners Hardt-Waltherr Hämer, mit dem ab 1981 nach der hemmungslosen Kahlschlagsanierung der 1960er und 1970er Jahre ein besserer Weg der Stadterneuerung gesucht wurde), muß im Wedding als gescheitert angesehen werden. Genau genommen gibt's den Wedding übrigens seit dem 31. 12. 2000 gar nicht mehr: Im Zuge der Bezirksreform, die das Ziel hatte, die nach der Wiedervereinigung der Stadt überbordende Vielzahl der Bezirke einzudämmen, wurde der Wedding gemeinsam mit Mitte und Tiergarten zum neuen Bezirk Mitte fusioniert. Und auch für dieses neue administrative Großgebilde gilt das Gesagte: Nach einem Bericht der ZEIT vom Dezember 2005 ist Mitte deutschlandweiter Spitzenreiter beim Anteil der Sozialhilfeempfänger, und leider auch bei Gewalttaten an Schulen, mit steigender Tendenz. Und dennoch... Trotz alledem gibt es noch immer schöne Flecken in diesem schwer geprüften Stadtteil, die umso stärker anrühren, als sie so unverhofft hervorstechen aus ihrem trostlosen Umfeld. Eine der schönsten Jugendstilfassaden von Berlin steht in der lärmenden Luxemburger Straße gegenüber von Aral, die verträumte Panke-Promenade lädt jedermann zum Aufatmen ein, der sie zu finden weiß, es gibt den Rosengarten im Humboldthain, die wundervolle Sicht durch die Allee auf den Siemensbrunnen in Rehberge (nicht zu vergessen die unweit davon hausenden Wildschweine), und und und... Plötzlich ein Silberstreif am Horizont...Völlig unverhofft geriet der Wedding Anfang 2006 bundesweit in die Schlagzeilen: Die schon erwähnte Entmischung der Bevölkerungsstruktur mit einem ständigen Anwachsen der Bevölkerung mit Migrationshintergrund hat insbesondere an den Schulen zu einer Situation geführt, die im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos macht: Der Anteil der Weddinger Schüler mit einer anderen Muttersprache als Deutsch stieg zwischen den Jahren 2000 und 2005 von 60 auf den geradezu unglaublichen Wert von über 90%. Da es sich dabei keineswegs ausschließlich um Türken handelt, sondern um eine bunte Mischung verschiedenster Herkunftsländer, war dadurch nicht nur die Vermittlung des Lehrstoffs in Frage gestellt, sondern auch die Verständigung der Schüler untereinander nicht mehr gewährleistet - mit vorhersehbaren Folgen für den Umgang miteinander. In dieser bedrohlichen Lage entschied sich die Leitung der Herbert-Hoover-Oberschule in der Pankstraße zu einem ungewöhnlichen und mutigen Schritt: Zum einen werden nun regelmäßige Spracheignungstests durchgeführt, zum anderen versucht man, die dabei aufgedeckten Sprachdefizite in speziellen Fördergruppen außerhalb des normalen Unterrichts zu beheben. Darüberhinaus wurde der reguläre Deutschunterricht von den üblichen vier auf sechs Wochenstunden ausgedehnt. Als konsequenten Abschluß all dieser Maßnahmen beschloß die Schulkonferenz (als gemeinsame Vertretung von Lehrern, Schülern und Eltern) im März 2005, eine Regel in die Hausordnung aufzunehmen, die ein knappes Jahr später für Furore sorgte. Sie lautet: Die Schulsprache unserer Schule ist Deutsch, die Amtssprache der Bundesrepublik Deutschland. Jeder Schüler ist verpflichtet, sich im Geltungsbereich der Hausordnung nur in dieser Sprache zu verständigen. Diese Anweisung wurde nunmehr von den üblichen Revolverblättern und privaten Fernsehsendern (aber auch von einer seltsamen Allianz aus linken und grünen Gruppierungen, professionellen Betroffenheitsagitatoren, türkischen und islamischen Interessenverbänden und Presseorganen) als "Sprachverbot", institutionalisierte Ausländerfeindlichkeit oder auch gleich als Angriff auf die Menschenrechte der in Deutschland lebenden Ausländer zu Schlagzeilen verarbeitet. Daß es sich bei der Sprachregelung um eine einvernehmlich von allen Beteiligten getroffene Entscheidung handelte, deren positive Folgen für den Schulalltag längst erwiesen sind und die weiterhin von Schülern, Lehrern und Eltern einstimmig unterstützt wird, scherte dabei niemanden. In dieser inszenierten Hysterie erwies sich einem Bericht der ZEIT vom Februar 2006 zufolge der 16jährige Schülersprecher Asad Suleman als Held der Stunde: Angesichts geifernder Journalistenscharen, die dem jungen Mann unter allen Umständen eine Opferrolle andichten wollten, über die sich dann in kreischendem Tonfall weiter hätte "berichten" lassen, behielt der Sohn pakistanischer Eltern völlige Ruhe und Souveränität und ließ die bellende Meute ungerührt zetern, um dann in aller Gelassenheit die Lage so zu schildern wie sie ist. Mir scheint, in dieser Geschichte steckt viel Hoffnungsvolles: Wenn in einer aus den oben geschilderten Entwicklungen herzuleitenden zugespitzten Lage die Betroffenen sich durch selbst gesetzte Regeln quasi am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen vermögen, dann hat vielleicht der Wedding doch noch eine Chance. Und es wäre kein kleines Verdienst, wenn er hierin anderen deutschen Städten und Regionen, die in Kürze vor ähnlichen Problemen stehen dürften, als nachahmenswertes Beispiel dienen könnte. Einige Links zu diesem Thema: |